/ Von Karl-Heinz Janßen

¶Es gibt viele historische Werke, die unsere Kenntnis nur bereichern und die wir deshalb dankbar aus der Hand legen. Es gibt auch andere, aber wenige, die uns erschüttern, ja umwerfen. Sie treffen den Kern von Vorstellungen, die uns teuer gewesen sind.“ Mit diesen Worten hat der Publizist Paul Sethe vor zwanzig Jahren in der ZEIT (Nr. 47 vom 17. November 1961) seine Rezension über das 900-Seiten-Buch des Hamburger Historikers Fritz Fischer eingeleitet, das den provozierenden Titel trug: „Griff nach der Weltmacht“. Es war überhaupt die erste Würdigung dieses zeitgeschichtlichen Werkes, das alles über den Haufen warf, was Generationen deutscher Schulkinder über den Kriegsausbruch von 1914 und über die Politik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg gelernt hatten.

 
 

Zwei Jahrzehnte danach ist den Nachgewachsenen kaum noch begreiflich zu machen, warum Fischers Thesen die Gelehrtenwelt und die öffentliche Meinung so leidenschaftlich aufwühlen konnten (ein großer Teil der Fischer-Kontroverse in den folgenden Jahren wurde in diesem Blatt ausgetragen). Der unerbittliche Moralist aus Hamburg hatte mit seiner schonungslosen Offenlegung der imperialistischen Habgier des Kaiserreiches („der guten, alten Zeit“) und der nationalistischen Verblendung, die damals weite Teile des Volkes ergriffen hatte, ins Mark bundesrepublikanischen Selbstverständnisses getroffen. Gerade hatte sich der Bürger in der restaurierten Wohnstube der Adenauer-Zeit behaglich eingerichtet, mit dem beruhigenden Gefühl, daß Deutschland zwar den Zweiten Weltkrieg verschuldet habe, in den Ersten jedoch „reinen Herzens“ hineingetapst sei; die Hitlerschen Raub- und Eroberungszüge wären also nur ein einmaliger Betriebsunfall unserer Geschichte gewesen. Das sensationelle Buch zwang nun zu einer schmerzhaften Revision der ferneren Zeitgeschichte.

Ziel: Vormacht in Europa

Fischer und seine Schüler hatten sich in den fünfziger Jahren, als in Ost und West die riesigen Aktenbestände aus der Kaiserzeit deutschen Forschern verfügbar wurden, die Frage gestellt: Wie würde Europa und die Welt ausgesehen haben, wenn Deutschland 1914 den Krieg gewonnen hätte? Eine erste Antwort fanden sie in einem Dokument, das sie im Deutschen Zentralarchiv Potsdam in den Akten der ehemaligen Reichskanzlei entdeckt hatten: das von ihnen sogenannte Septemberprogramm, eine Kriegszieldenkschrift des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg, die er am 9. September 1914 – auf dem Höhepunkt der kriegsentscheidenden Marneschlacht zwischen Paris und Verdun – aus dem Großen Hauptquartier in Luxemburg an den Vizekanzler in Berlin, den Staatssekretär des Innern, Clemens von Delbrück, gesandt hatte. Diese „vorläufige Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß“ hatte sich der Kanzler von seinem nächsten Mitarbeiter, dem noch jungen Legationsrat und politischen Publizisten Kurt Riezler, anfertigen lassen, damit das Reich „für die Eventualität plötzlicher Verhandlungen“ über einen Präliminarfrieden gewappnet sei.

Das „allgemeine Ziel des Krieges“ war darin gleich zu Anfang umschrieben worden: „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden“, ein Maximalziel, an dem die Reichsleitung und die Machteliten (Militär, Ministerialbürokratie, Wirtschaftsverbände, rechte Parteien, Professorenschaft, Bundesfürsten) durch alle Höhen und Tiefen des Krieges bis unmittelbar vor dem Zusammenbruch im Herbst 1918 festgehalten haben.

 
 

Kernstück des Planes war „die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen“, also eines gemeinsamen Marktes, dem die besiegten Länder Frankreich und Belgien, die neutralen Staaten Holland und Dänemark, das erst noch von russischer Herrschaft zu befreiende Polen, das verbündete Österreich-Ungarn und vielleicht auch Italien, Norwegen und Schweden angehören sollten. Bei scheinbarer Gleichberechtigung der Mitglieder sollte Deutschland die Führung zufallen, „die wirtschaftliche Vorherrschaft“. Im Widerspruch dazu sollte Frankreich wirtschaftlich völlig von Deutschland abhängig werden.

 

Für unerläßlich hielt der Reichskanzler die Abtretung des lothringischen Erzgebietes von Briey, auf das die deutsche Schwerindustrie schon seit-Jahren begehrliche Blicke geworfen hatte, außerdem eine hohe Kriegsentschädigung. Belgien sollte die Festung Lüttich abtreten, Luxemburg deutscher Bundesstaat werden. Das Königreich Belgien, das von den deutschen Armeen unter Bruch des Völkerrechts überfallen worden war, sollte „zu einem Vasallenstaat herabsinken“ (eine Lieblingsidee Riezlers); ihm könne man dann getrost die französische Kanalküste angliedern. Dem Urteil der Militärs wollte man es überlassen, ob Frankreich die burgundische Festung Bei fort und den Küstenstrich von Dünkirchen bis Boulogne an Deutschland abtreten müsse. Als weiteres großes Kriegsziel wurde „die Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreichs“ angestrebt (vor allem auf Kosten der Belgier und Franzosen), in einem Nachtrag „ein engeres Verhältnis“ Hollands zum Deutschen Reich in Aussicht genommen – die niederländischen Kolonien in Südostasien gleich eingeschlossen.

Der Streit der Historiker entzündete sich an der Frage, ob diesem (zunächst ja unverbindlichen) Programm eine defensive oder eine offensive Haltung zugrunde gelegen habe. Für die Fischer-Schule stand es fest: Die Kriegszielpolitik habe lediglich die imperialistischen Zielrichtungen der Vorkriegspolitik wiedereingenommen – von da war es dann nicht mehr weit zu der These, Deutschland habe den Ersten Weltkrieg bewußt herbeigeführt, um nach der Weltmacht, ja Weltherrschaft zu greifen. Freilich, als sich der Pulverdampf der ersten Professorenfehden verzogen hatte, mochte kein Historiker mehr bestreiten, daß Bethmann Hollweg im Juli 1914, nach dem Attentat von Serajewo, bewußt einen Weltkrieg riskiert hatte – „aus Furcht und Verzweiflung“, meinten die einen; in der Absicht, die deutsche Vorherrschaft auf dem Kontinent zu erringen, vermuteten die anderen.

Fischer ist der Beweis einer Kontinuität insoweit gelungen (wie es der Tübinger Historiker Hans Rothfels formulierte), „als in den Kriegszielen nichts auftaucht, was nicht vorher schon in der allgemeinen Richtung oder in konkreten Einzelforderungen vor der deutschen Öffentlichkeit diskutiert, ja mit mehr oder weniger starkem Wunschdenken als erreichbar dargestellt oder als Lebensnotwendigkeit bejaht worden war“. Bis auf die Sozialdemokraten hatten sich eigentlich alle gesellschaftlichen Gruppen an diesen Spielchen beteiligt. Rudolf Augstein, Vorkämpfer der Fischer’schen Geschichtsaufklärung, hat den Tatbestand auf seine Weise treffend beschrieben: „Kriegsziele schlummern als giftige Zwerge im Unterbewußtsein der Völker. Erst die Elefantiasis des Krieges bringt sie ans Licht und zum Wachsen.“

Ein anderer Hamburger Historiker, Egmont Zechlin, schwerverwundeter Veteran des Ersten Weltkrieges, hat viel Scharfsinn darauf verwendet, das von Fischer entdeckte Kriegszielprogramm zu bagatellisieren. Ihm wollte es so scheinen, als ob da eine diskutierende Gruppe um eine Schreibmaschine herumgestanden und eilfertig alles zu Panier habe bringen wollen, was ihr an Kriegszielen noch so einfiel. Fischer konnte aber nachweisen – und die später veröffentlichten Tagebücher Riezlers bestätigten es –, daß schon seit den ersten Kriegstagen in Berlin und später im Hauptquartier über Einzelheiten des Programms nachgedacht worden ist. Gerhard Ritter, Anfang der sechziger fahre der Nestor der deutschen Historikerschaft und sicherlich der schärfste Kritiker Fischers, dessen Aufräumarbeit ihn an politisches Flagellantentum erinnerte, hat immerhin den Inhalt der Septemberdenkschrift ernst genommen, als Zeichen, daß selbst ein so besonnener und sittlich überragender Politiker wie Bethmann Hollweg – „der Philosoph von Hohenfinow“ – „auf dem Höhepunkt deutscher Waffenerfolge den Gedanken der reinen Abwehr aufgegeben“ und die Machtverhältnisse in Mittel- und Westeuropa gründlich habe umgestalten wollen.

Nicht ganz zu übersehen ist. wessen Gedanken im einzelnen in die Denkschrift eingeflossen sind. Gewiß haben der AEG-Chef Walther Rathenau und der Bankier Karl Helfferich den wirtschaftlichen Teil mitbestimmt; natürlich kursierten in Luxemburg auch die annexionistischen Eingaben von Parlamentariern wie Erzberger, von Industriellen wie Thyssen, von den chauvinistischen Alldeutschen: mit den Herren vom Generalstab, vom Militärkabinett und mit Großadmiral von Tirpitz, dem Staatssekretär im Reichsmarineamt und Schöpfer der Hochseeflotte, sprach man ohnehin jeden Tag; selbst die bombastischen Einfälle des Kaisers mußten sich irgendwo noch niederschlagen. Die letzten Zusammenhänge sind noch keineswegs bloßgelegt.

Wir veröffentlichen heute zum erstenmal zwei Dokumente, die aus jener Phase der Meinungsbildung stammen, als eine siegesberauschte Nation täglich mit der Kapitulation Frankreichs rechnete. Das eine hat der Fischer-Schüler Bernd F. Schulte („Die deutsche Armee 1900–1914“) ausgegraben*. Es ist ein Brief, den der ehemalige Marineattache in London, Kapitän zur See Widenmann, an Großadmiral von Tirpitz gerichtet hat. Erstaunlich viel daraus ist in Bethmann Hollwegs Denkschrift wiederzufinden. Wie sind diese Parallelen in den Gedankengängen so unterschiedlicher, ja untereinander verfeindeter Kreise wie Kanzlerstab, Industrie, Heer, Marine entstanden? Haben vielleicht Industrielle mit Hilfe der Alldeutschen Stichworte verteilt? Oder hatte bereits die Vorkriegsdiskussion solch tiefe Spuren hinterlassen, daß man in gewissen Kreisen im Gleichklang dachte? Oder gab es einen geheimnisvollen Dritten, der verschiedene Persönlichkeiten als Mittler vorschickte? Oder ergaben sich diese Kriegsziele – Mitteleuropa, Ausbeutung Frankreichs, Annexion der Rhein- und Scheidemündung – einfach aus der Kriegslage, so daß jeder darauf kommen mußte?

* vollständig in: Bernd F. Schulte, „Europäische Krise und Erster Weltkrieg. Beiträge zur Militärpolitik des Kaiserreichs 1871 bis 1914“, das Anfang 1982 bei Peter Lang, Frankfurt, erscheint.

 

Bemerkenswert, wie früh man in der Flotte bereits erkannt hat, daß der Krieg mit England noch lange dauern werde, darum auch die Spekulation, mittels einer saftigen Kriegsentschädigung aus Frankreich neue Kriegsschiffe bauen zu können. Wenige Wochen, und diese Träume waren jäh verflogen.

Das zweite Dokument – das Professor Fischer demnächst in einer Studie herausbringen will – enthält zehn Bedingungen, die der deutsche Botschafter in Washington, Graf Bernstorff, einem amerikanischen Gesprächspartner übergeben hat. Vielleicht waren sie bereits aufgesetzt, als er Mitte August 1914 von Berlin nach New York abreiste. Man wollte für eine mögliche amerikanische Friedensvermittlung vorbauen – kein Wunder, daß in diesen keineswegs unbescheidenen Forderungen jeder Hinweis auf das geschändete Belgien und Mitteleuropa fehlt. Beides hätte amerikanische Interessen und Gefühle verletzt.

Dreieinhalb Jahrzehnte nach dem selbstverschuldeten Untergang des Deutschen Reiches muten diese (schon seinerzeit realitätsfernen) machtpolitischen Ziele grotesk an. Doch sie waren blutige Wirklichkeit, Ergebnis dessen, was Paul Sethe 1961 „die politische Todsünde der Hybris“ genannt hat. Wenn wir heute unbefangen über diese so lange verborgenen dunklen Seiten unserer Vergangenheit reden können, so ist das jenem kühnen Wurf Fritz Fischers zu danken. Golo Mann urteilte bereits 1962, ungeachtet seiner Vorbehalte gegen Fischers Methoden und Thesen: „Die Forscherleistung, die Bereitschaft zur rückhaltlosen nationalen Selbstkritik verdienen allen Respekt.“

Dokument I

Aus einem Brief Kapitän Widenmanns an Großadmiral von Tirpitz

Nordsee (S.M.S. „Kolberg“), 29. August 1914 Euer Exzellenz!

... Nur die Größe der finanziellen Kriegsentschädigung wird zunächst die Mittel für den weiteren Ausbau der Flotte der Nation schmackhaft machen können, bis auch die Zweifler sehen werden, daß gegen England weiter gerüstet werden muß. Den während des Krieges mit allen Mitteln inszenierten Kampf gegen unser Wirtschaftsleben wird England auch nach dem Frieden fortsetzen und hat dabei den Vorteil, daß wir durch den Krieg an Boden verloren haben, den unsere anderen Konkurrenten, nicht zuletzt Amerika, gewonnen haben und nicht gutwillig werden wieder abtreten wollen. Gegen diesen Verlust scheint mir neben dem weiteren Ausbau unserer Flotte nur ein Weg offen, die „Konstituierung des mitteleuropäischen Zollverbandes“ unter Einschluß von Frankreich. Die hierin drohende Gefahr für England deutete Sir Edward Grey in seiner Rede an, in der er die Kriegserklärung gegen uns motivierte. Also muß sie eine unserer Friedensbedingungen sein, die wir Frankreich auch gegen den Willen Englands abtrotzen müssen. Österreich wird ohne weiteres mitmachen wollen; Belgien wird zum Eintritt gezwungen, dadurch daß es Reichsland bleibt; das so eingekeilte Holland wird nicht zu seinem Nachteile mitmachen müssen; in den skandinavischen Ländern wurde dieser Gedanke schon vor Ausbruch des Krieges poussiert; Italien, die Schweiz und die Balkanländer werden sich von dem central liegenden, wie ein Magnet wirkenden Bunde nicht ausschließen können ...

 

Um aber England gegenüber auch militärisch diese wirtschaftlichen Bedingungen durchsetzen zu können, muß meiner Ansicht nach außer der Einverleibung Belgiens in das Reichsgebiet auch Nordfrankreich soweit deutsch werden, daß der Besitz von Dünkirchen, Calais und Boulogne militärisch verteidigt werden kann. Wenn Deutschland hierdurch vor den Toren Londons sitzt und den direkten Zutritt zum Kanal in Händen hat, wird zwar die Freundschaft Englands nicht wachsen, aber ein Mittel gegeben sein, gegen die zukünftige Feindschaft besser gewappnet zu sein. Wie weit unsere lothringische und elsässische Grenze weiter westlich vorgeschoben werden muß, um gegen Revanchegelüste Frankreichs sicher zu sein, muß der Entscheidung der Militärs überlassen bleiben, um so weniger werden wir dem Revanchegedanken Nahrung geben, und um so weniger wird der schon durch Belgiens Einverleibung unvermeidliche Zuwachs an fremden Elementen gesteigert werden...

Unsere afrikanischen Kolonien muß England von neuem in altem Besitzstande anerkennen; der Kongostaat fällt mit Belgien an das Reich; ebenso der französische Kongo. Und um eine Etappenstraße nach dem afrikanischen Kolonialbesitz zu sichern, muß England in den käuflichen Erwerb einer der portugiesischen oder spanischen Inseln des Atlantischen Ozeans einwilligen.

Holland sollte deutsch werden

Schwieriger wird die Frage einer Entschädigung für den Fall, daß Tsingtau von den Japanern genommen wird. Selbst, wenn man von England erzwingen könnte, diesen Besitz an Deutschland zurückzugeben, ist die Frage, ob ersteres in der Lagerist, es wieder von Japan zurückzuerhalten. Wenn es das deutsche Prestige Japan gegenüber zuläßt, und die wirtschaftliche Stellung des deutschen Handels nicht etwas positiveres im Norden verlangt, würde England am meisten gestraft sein, wenn es Britisch-Borneo als Entschädigung abtreten müßte, durch dessen Besitz das deutsch-niederländische Kolonialreich eine wertvolle Stärkung erfahren würde.

Damit ist die Frage der politischen Stellung Hollands angeschnitten, die neben dem wirtschaftlichen Anschluß an den mitteleuropäischen Zollverband geklärt werden muß. Zwingen tut hierzu die Lage Antwerpens zur holländischen Scheidemündung. Diese und Antwerpen sind der gegebene neue deutsche Kriegs- und Handelshafen des Westens. Der Kriegshafen fordert, daß sein Zugang zum Meer an beiden Seiten vom Reichsgebiet umschlossen wird. Um Holland zu diesem Zugeständnis zu bewegen, müßten ihm in anderen belgischen Gebietsteilen Opfer gebracht werden. Die Garantie seiner Unabhängigkeit im Deutschen Reiche nach Analogie der übrigen Bundesstaaten wäre das wünschenswerteste für uns, wenn Holland selbst zu bewegen ist, ins Deutsche Reich einzutreten.

Jedenfalls muß der Gedanke an den Besitz Antwerpens mit der Scheidemündung und an den der ganzen belgisch-französischen Kanalküste bis einschl(ießlich). Boulogne schon jetzt so sehr Allgemeingut von Deutschland werden, daß ein Frieden ohne diesen Zuwachs überhaupt eine Unmöglichkeit wird.

Das Bild würde nicht vollständig sein, wenn der Osten nicht mit hineingenommen würde. Österreich steht uns dabei am nächsten. Es müßte seine Entschädigung in Nordserbien mit Belgrad, dann Montenegro (Sandschak), Albanien und russischem Gebiet finden, soweit es nicht polnisch ist. Der Widerstand Italiens gegen ein österreichisches Albanien müßte durch das Angebot von Savoyen und Südfrankreich gebrochen werden.

 

Den Rest von Serbien, das als politischer Staat verschwinden muß, müßte Bulgarien erhalten.

Rumänien müßte sich auf Kosten Rußlands über Bessarabien hinaus bis zur Krim ausdehnen dürfen und schließlich

die Türkei den Kaukasus bis zur Grenze des Don-Gebietes und Astrachan einverleiben.

Schweden müßte sich in Finnland entschädigen dürfen. Ich würde den vier letztgenannten Reichen schon heute diese Gebietserweiterungen, die alle auf Kosten unserer Feinde gehen, auf diplomatischem Wege vorschlagen, um ihnen das Eingreifen in den Weltkrieg zu erleichtern, und damit sie sich ein Anrecht auf Gebietszuwachs erwerben.

Ein selbständiges Polen, soweit Russisch-Polen in Frage kommt, könnte uns als Pufferstaat nur erwünscht sein. Unsere Polen müßten zwischen Preußen und dem neuen Polen optieren dürfen. Entscheiden sie sich für letzteres, so müßten sie auswandern.

Am schwersten wird die Frage sein, ob sich Deutschland mit einem Zuwachs an russischem Gebiet selbst beteiligen und ob das ethnographisch schon jetzt bunt zusammengesetzte Reich sich mit noch weiteren Ausländern belasten soll. So wünschenswert es erscheinen mag, Rußland dadurch in Strafe zu nehmen, daß man es zu Gebietsabtretungen an Deutschland zwingt, so fraglich erscheint der Gewinn. Wenn es sich um Gebiete handelt, dürften meiner Ansicht nach nur die eisfreien Küstengebiete der Ostsee in Frage kommen, um Rußland an der empfindlichsten Stelle zu treffen...

Euer Exzellenz gehorsamst ergebener (gez.) Widenmann

 

Dokument II

Berlin, 13. 2. 1919

Welches wären die Bedingungen eines siegreichen Deutschlands gewesen? Graf Bernstorff, der frühere deutsche Gesandte (sie!) in Washington, gab 1914 die Waffenstillstandsbedingungen bekannt, die Deutschland, welches sich damals siegreich glaubte, Frankreich auferlegen wollte. Die Bedingungen waren in folgenden 10 Punkten enthalten:

1. Abtretung aller französischen Kolonien,

2. Abtretung der nordöstlichen Gebiete Frankreichs,

3. Auferlegung einer Kriegsentschädigung von zehn Milliarden,

4. Abschaffung aller Einfuhrzölle auf deutsche Waren nach Frankreich und dies auf die Dauer von 25 Jahren; Deutschland behält sich das Recht vor, auf die französischen Erzeugnisse, die nach Deutschland eingeführt werden sollen, einen Zoll zu erheben;

 

5. Frankreich gibt die allgemeine Wehrpflicht auf 25 Jahre auf,

6. Schleifung aller französischen Festungen,

7. Auslieferung von drei Millionen Gewehren, 2000 Kanonen, 40 000 Pferden,

8. die deutschen Patente müssen in Frankreich spezielle Vorrechte genießen,

9. Frankreich muß jegliches Bündnis mit Rußland und England aufgeben,

10. Frankreich muß auf 25 Jahre ein Bündnis mit Deutschland schließen.

(Bleistiftbemerkung Bernstorffs):

 

„Über diesen Funkspruch berichtete ich an den Herrn St(aats). Sekr(etär).“* B(ern)st(orff). 18.)/2.1919.

*) Es handelt sich um Ulrich von Brockdorff-Rantzau vom Auswärtigen Amt